Das Schamgefühl, so sagte es der Psychiater und Psychoanalytiker Leon Wurmser, ist die Wächterin der menschlichen Würde. Scham ist ein Grundbedürfnis der Menschen. Das Schamgefühl gehört zum Innersten unseres Wesens, zum Kern unserer Persönlichkeit und damit zu unserer unverletzlichen Würde.
Jeder Mensch hat seine eigene Schamgrenze, die nur teilweise durch die Kultur, in der wir aufwachsen, bedingt ist. Wir entwickeln unser Schamgefühl im Laufe unseres Lebens. Dabei kann sich auch die Schamgrenze verschieben, etwa durch religiöse Überzeugungen, die wir gewinnen.
Das Schamgefühl eines jeden Menschen ist unbedingt zu respektieren, auch dann, wenn es uns übertrieben erscheint. Die Schamgrenzen eines Menschen dürfen nie verletzt werden. Leider leben wir in einer Gesellschaft, die das Schamgefühl (auch das eigene) oft geringachtet.
Mein eigenes Schamgefühl umfasst auch meine Haare, mein Gesicht und meine Hände sowie meine Stimme. Es verlangt von mir ein Mindestmaß an Geschlechtertrennung.
Dieses Schamgefühl meldet sich, wenn fremde Männer meine Haare, mein Gesicht und meine Hände zu sehen oder meine Stimme zu hören bekommen, wenn es nicht unbedingt erforderlich ist. Ich achte darauf, in Gegenwart fremder Männer den Blick zu senken. In Gegenwart fremder Männer spreche ich nur leise und nur das Nötigste und vermeide jeden Smalltalk.
Ich würde mich unanständig fühlen, wenn ich bewusst gegen mein Schamgefühl handle. Ich würde mich dafür schämen.
Und ich fühle mich beschämt, gekränkt und abgewertet, wenn man mir verbietet, angemessen mit meinem Schamgefühl umzugehen, also von mir verlangt, meinen Schleier abzulegen. Es ist wie Beleidigung, Verleumdung oder üble Nachrede eine Ehrverletzung, allerdings nicht wie die vorgenannten Tatbestände der „Ehrverletzungen“ ausdrücklich vom Strafrecht abgedeckt. Doch mein Anstandsgefühl, meine Würde, meine Ehre wären verletzt. Es ist eine Verletzung der von Artikel 1 Grundgesetz besonders geschützten unverletzlichen Würde des Menschen.
Verbote von Hidschab und Nikab sind, wenn sie zur Verletzung unseres Schamgefühls führen, immer Verletzungen der Menschenwürde. Es geht nicht nur um Religionsfreiheit, nicht nur um die freie Entfaltung der Persönlichkeit, sondern unbedingt auch um die Menschenwürde.
Der Staat hat nicht das Recht, die Grenzen dessen, was unser Schamgefühl umfasst, für uns festzulegen. Er darf nicht leichtfertig über unsere Schamgrenzen hinwegtrampeln und sie niederreißen, wenn es dafür keinen zwingenden Grund gibt.