Die Religionsfreiheit gemäß Artikel 4 Grundgesetz* ist in Deutschland ein sog. schrankenloses Menschenrecht bzw. ein Menschenrecht ohne Gesetzesvorbehalt.

Grundüberlegungungen

Menschenrecht bedeutet, dass es im Gegensatz zu Bürgerrechten für alle Menschen in Deutschland gilt, unabhängig von der Staatsangehörigkeit.

Schrankenlos bzw. ohne Gesetzesvorbehalt bedeutet, dass es nicht durch einfache Verordnungen oder Gesetze eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt werden kann, sondern nur bei einer Grundrechtskollision, die vorliegt, wenn das entsprechende Menschenrecht mit einem anderen, gleich schwerwiegenden Grundrecht zum erheblichen Nachteil anderer Grundrechtsinhaber kollidiert.

Grundrechte, egal ob Bürger- oder Menschenrechte, binden den Staat. Sie schränken das Handeln des Staates gegenüber Mitgliedern der Gesellschaft ein und garantieren den Menschen, dass der Staat ihre Grundrechte wahrt. Das heißt, das Menschenrecht auf Religionsfreiheit darf vom Staat nicht verletzt werden.

Grundrechte binden nicht einzelne Menschen oder nichtstaatliche Organisationen, sind aber zugleich Grundlage von Recht und Gesetz in Deutschland. So kennt etwa das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG) ein Verbot der Diskriminierung aufgrund der Religion im Handel und in der Berufswelt und schützt auch in diesem Bereich die Religionsfreiheit.

Grundrechtskollisionen

Grundrechte ohne Gesetzesvorbehalt dürfen nur eingeschränkt werden, wenn die Ausübung dieses Grundrechts mit einem anderen, gleich schwerwiegenden Grundrecht kollidiert. In diesem Fall ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren: Legitimität, Erfordernis, Geeignetheit, Angemessenheit.

Legitimität bedeutet, dass die Einschränkung einen legitimen Zweck haben muss, der sich aus dem Grundgesetz bzw. aus der gebotenen Auflösung einer Grundrechtskollision ergibt. Außerdem muss das für den Zweck gewählte Mittel selbst legal sein (Legalität).

Erfordernis bedeutet, dass das für den Zweck gewählte Mittel unbedingt erforderlich ist, um den Zweck zu erfüllen. Es ist stets das mildeste Mittel zu wählen, das angewendet werden kann. Stehen geeignete mildere Mittel zur Verfügung, so müssen diese verwendet werden.

Geeignetheit bedeutet, dass das gewählte Mittel geeignet sein muss, um den Zweck zu erfüllen. Ist das Mittel ungeeignet, ist ein anderes Mittel zu wählen. Die Geeignetheit muss überprüfbar sein (Überprüfbarkeit).

Angemessenheit bedeutet, dass das gewählte Mittel eine Partei nicht stärker belastet als die andere. Die Belastung muss ausgewogen sein. Die Nachteile dürfen nicht schwerer wiegen als die Vorteile.

Die wichtigste Grundrechtskollision bei der Religionsfreiheit besteht dort, wo die Ausübung der positiven Religionsfreiheit mit der negativen Religionsfreiheit kollidiert. Darum darf niemand staatlicherseits zu einer religiösen Handlung genötigt oder gezwungen werden, etwa zum Besuch eines Gottesdienstes.

Eine angebliche „Leitkultur“, wie manche konservative Politiker sie herbeiphantasieren und als Ausdruck vermeintlicher „jüdisch-christlicher Traditionen“ betrachten, ist weit davon entfernt, ein Grundrecht zu sein, das durch die Ausübung der islamischen Religion, selbst durch das Tragen des Nikabs durch eine Muslimin, betroffen wäre.

Religionsfreiheit ist ein individuelles Menschenrecht

In Deutschland hat jeder Mensch das Recht, sich seine Religion und sein religiöses Bekenntnis selbst zu bilden und sein Leben gemäß seinen religiösen Bekenntnissen und Überzeugungen allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu führen. Es braucht dafür keine Mitgliedschaft in einer (öffentlich-rechtlichen) Religionsgemeinschaft.

Das heißt, für die Ausübung der Religion durch Musliminnen und Muslime ist es nicht erforderlich, dass diese Praxis von einer islamischen Religionsgemeinschaft gefordert wird, nicht einmal von der Mehrheit der Musliminnen und Muslime. Die Verfassung schützt die Bekenntnisfreiheit auch jenseits verfasster Religionsgemeinschaften oder Mehrheitsüberzeugungen.

Es ist auch nicht erforderlich, dass die Ausübung der Religion exakt einer bestimmten „heiligen Schrift“ entspricht, was zudem Menschen benachteiligen würde, die keine solche Schrift haben, sondern deren Bekenntnisse mündlich tradiert sind.

Wer glaubhaft versichern kann, dass eine bestimmte religiöse Handlung seinem Glauben gemäß ist, kann verlangen, diese Handlung ungestört ausüben zu können, ohne dass der Staat ihn darin einschränkt. Der Ausübung ist nur dann eine Grenze gesetzt, wenn es zu einer Grundrechtskollision kommt.

Neutralitätspflicht des Staates

Der Staat darf religiöse Bekenntnisse und Überzeugungen nicht bewerten oder beurteilen. Eine Bewertung etwa der Hidschab-Pflicht im Islam oder des Gebotes, keinen Alkohol und kein Schweinefleisch zu konsumieren, steht dem Staat nicht zu.

Er darf ebenso wenig bestimmte Religionen bevorzugen oder benachteiligen.

Hidschab und Nikab

Hidschab und Nikab sind einerseits durch die Religionsfreiheit geschützt, aber ebenso durch das Menschenrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß Artikel 2 Grundgesetz und durch das Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung gemäß Artikel 5 Grundgesetz, da wir mit der Wahl unserer Kleidung eine (bildlich dargestellte) Meinung äußern.

Zudem greift das Verbot der Benachteiligung aufgrund des Glaubens gemäß Artikel 3 Grundgesetz im Falle einer Diskriminierung.

Religionsfreiheit in Deutschland und Europa

Zu beachten ist, dass das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die Religionsfreiheit stärker schützt als die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), da diese die Religionsfreiheit** unter einen Gesetzesvorbehalt stellt.

Schützt eine nationale Verfassung ein Grundrecht stärker als die EMRK, hat die nationale Verfassung in dem Land den Vorzug. Darum ist das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR), das z. B. Frankreich und Belgien ein sog. Burkaverbot erlaubt und zum Zwecke des Zusammenlebens sogar für zwingend erachtet, für Deutschland nicht bindend.

* Artikel 4 Grundgesetz

(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.

(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.

(3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.

** Artikel 9 EMRK: Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

(1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfaßt die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.

(2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.



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